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Schamanistische Heilverfahren in der Postmoderne

(Der Artikel erschien im Februar 2010 in der Zeitschrift "Naturheilpraxis" und wurde mir freundlicherweise vom Verfasser, dem Heilpraktiker und Schamanen Matthias Riemerschmid zur Verfügung gestellt.)

Seit einiger Zeit boomt der Schamanismus (schon wieder?) in der Esoterikszene, und er taucht auch auf dem Markt der alternativen Heilmethoden immer öfters auf. In einschlägigen Zeitschriften stehen Anzeigen, in denen Reisen zu echten Schamanen in Peru, Nordamerika oder sonst wo hin angeboten werden, gekoppelt mit Versprechen von Heilung, Sinnfindung und Spiritualität. Oder es werden Kurse angeboten, in denen man „in 6 Wochen“( siehe 1) zum Schamanen ausgebildet wird. Leider ruft dieser Boom auch viele Scharlatane auf den Plan, die den Schamanismus, der von der WHO als Heilmethode anerkannt ist, in Misskredit bringen. Auch glauben viele Menschen, daß es in unserer Kultur keinen Schamanismus gibt, demzufolge werden auch Menschen mit echter schamanischer Begabung nicht anerkannt oder als Exoten betrachtet, während Schamanen, die z.B. aus Nordamerika oder Sibirien eingeflogen werden,der Nimbus eine allwissenden Halbgottes und Heiligen anhaftet. Dieser Artikel will versuchen, einige dieser, aus meiner Sicht fatalen, Missverständnisse zu klären und den Schamanismus ein wenig aus seiner Esoterik - und Schmuddelecke herausholen.


Schamanismus – was ist das?

Der Schamanismus im eigentlichen Sinne ist eine Technik, mit der der Bewusstseinszustand verändert wird. Ein Schamane ist eine Person, die mittels bewusstseinsverändernder Techniken in einen tranceartigen Zustand geht und in diesem ihre Seele auf eine Reise in die Welt der Geister schickt, um dort Rat und Hilfe sowohl für Klienten als auch für sich zu erlangen. Die Techniken, um in Trance zu kommen, können recht verschieden sein: Singen, Tanzen, Trommeln, halluzinogene Drogen, Hyperventilation, „Zittern“ des Körpers etc. Bei vielen zirkumpolaren Völkern (also Sibirien, Alaska, Lappland) wird eine monoton gespielte Rahmentrommel verwendet, um quasi auf ihr in die Geisterwelt zu „reiten“.
In den meisten schamanisch geprägten Kulturen herrscht eine „mythologische“ Dreiteilung der Welt vor. Es gibt eine mittlere Welt, die Welt, in der wir leben, dann eine Welt darunter, die eher „unterirdischen“ Charakter hat, während die Welt über der mittleren Welt oft eher ätherisch und „himmlisch“ wahrgenommen wird. Selbst in unseren Breiten lebt diese Vorstellung, wenn auch christlich geprägt, in Himmel und Hölle weiter, während z.B. in den germanischen Eddas von 9 Welten gesprochen wird, sozusagen eine Potenzierung der Drei.
Diese 3 Welten werden oft durch eine Weltenachse, eine Leiter oder einen Heiligen Berg miteinander verbunden. Bei den Germanen war das der Weltenbaum Yggdrasil, an dem der Gott Odin 9 Nächte hing, um die Weisheit der Runen zu erlangen, bei dem Volk der Sami gibt es Höhleneingänge oder Seen, über die der Schamane im Geiste in die anderen Welten reist. In den keltischen Sagen gibt es die Feenhügel, mit deren Betreten ein Auserwählter die Elfen und Zwerge besucht und manchmal auch von ihnen entführt wird.
Der Schamane ist ein „Berufener“. Oftmals tritt er seinen Weg gar nicht freiwillig an, sondern wird z.B. in Träumen von Geistern besucht oder von ihnen mit Krankheiten geschlagen, bis er ihren Ruf annimmt und zu schamanisieren anfängt. Manchmal „zerfetzen“ tiefgreifende Geschehnisse im Leben des Anwärters sein Ego dermaßen, daß die Geister an der Grenze zum Wahnsinn ihn zu dem Auftrag, den er bekommen hat, zwingen können. Solche „Schamanenkrankheiten“ gibt es auch in der heutigen Zeit und in Mitteleuropa, sie werden nur nicht als solche erkannt.


Wie kam der Schamanismus in die Esoterik?

In den 60ern und 70ern waren die Bücher von Carlos Castaneda sehr populär, wobei diese aus ethnologischer Sicht mittlerweile widerlegt sind. Eine weitere wichtige Person, die die Bewegung ins Rollen brachte, war und ist Michael Harner. Als junger Ethnologe studierte er Anfang der 60er des letzten Jahrhunderts Indianerstämme Südamerikas und probierte von deren Schamanen auch das berüchtige „Ayahuasca“, meist als „Liane des Todes“ übersetzt. Dieses halluzinogene Gebräu versetzt den Konsumenten in einen visionären Zustand, der unter richtiger Führung durch einen Schamanen zu tiefen Einsichten oder Heilung führen kann. Harner war jedenfalls überzeugt, seine vorher eher atheistische Weltsicht war gründlich ins Wanken geraten, und er begann, bei vielen Ethnien den Schamanismus zu studieren. Im Laufe dieser Studien und Experimente löste er die Grundtechniken, die von jeder schamanischen Kultur verwendet wurde, heraus und bereitete sie so auf, daß sie auch für den gänzlichst „unschamanischen“ Westler zu erlernen waren. Diese Techniken sind folgende(siehe 2):

     · Die schamanische Reise. Man hört einem monotonen Trommelrhythmus zu und visualisiert dabei einen Eingang       in die Geisterwelt. Diese Visualisation gewinnt sehr schnell an Eigenleben, und man tritt im Idealfall den       typischen Seelenflug an, den Autoren wie Mircea Eliade beschreiben.

     · Verbündete Geister. In der Geisterwelt werden Verbündete gefunden. Die wichtigsten „Hauptagenten“ sind       hierbei das Krafttier und eine Lehrerpersönlichkeit. Vorrangig von ihnen bekommt der Schamanisierende Rat       und Hilfe, und sie sind auch „Kanäle“ seiner persönlichen „Schamanenkraft“.

     · Zwei Hauptkonzepte von Krankheit. Das erste Konzept besagt, daß in der Geisterwelt etwas Schädliches in       den Patienten eingedrungen ist, was oft als „Geist der Krankheit“, „Geisterpfeil“, „Elfenschuß“ oder ähnliches       bezeichnet und vom Schamanen mittels seiner verbündeten Geister entfernt wird. Die FSS nennt das       „Extraktion“. In der zweiten Variante wird vom „Seelenverlust“ ausgegangen. Hier verlässt den Patienten       aufgrund z.B. eines Schocks, Schrecks oder auch eines Missbrauchs ein Teil der Seele und entschwindet in       die Geisterwelt. Der Schamane muß die Seele „drüben“ suchen und wieder zum Patienten zurückbringen. Man       geht im schamanischen Paradigma davon aus, daß manche Depressionen und Süchte hier ihren Ursprung haben.       Tatsächlich nimmt der Patient solche Beschwerden oft wahr als „mir fehlt etwas“ oder „ich habe das Gefühl,       mit dem Rauchen (Saufen etc…) eine Leere ausfüllen zu müssen!“

Dieses Konzept vermittelte Harner in seiner FSS(siehe 2), und es wurde dankbar von der Esoterikszene aufgegriffen, gerade auch weil es sehr leicht zu erlernen und sehr wirkungsvoll ist, was zum einen für eine Verbreitung der Techniken sorgte, sie zum anderem aber auch verwässerte und ins Oberflächliche abdriften ließ, da in vielen Veranstaltungen schnelle Initiation und Heilung versprochen wurde und wird. Dieser nicht sehr große Tiefgang und die „Licht-und-Liebe“-Schiene vieler Esoteriker, oft gepaart mit einer eklatanten Ignoranz medizinischer und psychologischer Sachverhalte, führte dazu, daß der Schamanismus einen nicht sehr seriösen Anschein hat bzw. als „spinnerte Psychotechnik“ belächelt wird. Zudem gelten nur „indigene“ Schamanen als authentisch, weil ihre Initiationen gewissermaßen gesellschaftlich anerkannt sind, während es bei uns seit Jahrhunderten keinen Schamanismus mehr gab und Bemühungen in die Richtung eines Wiedererstehens schwer Fuß fassen können. Wie auch? Ein wild trommelnder Halbirrer, der Geister beschwört und mit Zauberei arbeitet, wie soll denn der in unsere postmoderne Gesellschaft, geprägt von Christentum und Aufklärung, hineinpassen? Und doch – der Schamane fasziniert, sonst würde dieser Begriff nicht so inflationär in der Esoterik verwendet werden. Es gibt tatsächlich einen „Esotourismus – Boom“, der so aussieht, daß Menschen z.B. in den Amazonas reisen, weil sie sich Heilung durch eine Ayahuasca(3) – Zeremonie erhoffen. Solche Bemühungen, wie sie auch von diversen Vereinen, die Schamanen zu ihren Kongressen einladen, getätigt werden, sind zwar an sich lobenswert und machen mit dem Phänomen Schamanismus etwas vertraut, sie gehen aber meines Erachtens nicht den nächsten Schritt: den des Versuches einer Integration des Schamanismus in unsere Kultur.
Es gibt auch bei uns Menschen, die zum einen diese Begabung zum Schamanisieren, zur Seelenreise haben, und es gibt von denen auch einige, die die weiter oben genannten Techniken eines Michael Harner anwenden, um Hilfestellung für sich und/oder Klienten „von drüben“ zu bekommen. Und hier bestünde die Möglichkeit einer Integration: das Augenmerk mehr auf solche Menschen richten und die ernsthaft und gut Arbeitenden aus der Esoterikecke herausholen. Wir haben eben das Problem, daß aufgrund des fehlenden kulturellen Hintergrundes diese Leute nicht wirklich anerkannt sind. Und dieser Artikel möchte eine Lanze über die „Neo-Schamanen“ in unseren Breiten brechen. Man muß nicht ins Amazonasbecken zu einem berühmten Schamanen reisen, um dort Heilung zu erlangen.


Spuren in unserer Kultur

Zur Zeit der Christianisierung und Inquisition im Mittelalter und der frühen Neuzeit wurde das, was man weitestgehend als „mitteleuropäischen Schamanismus“ hätte bezeichnen können, vollkommen ausgerottet oder christlich umgedeutet. Dazu gehören die „Hagazussas“, die man heute als Hexen bezeichnen würde und die Seidrleute in den skandinavischen Ländern. Zwar streiten sich die Ethnologen heute noch, was eine „Hagazussa“ ist, aber die Bedeutung des Wortes an sich ist „ein Wesen, das auf/in der Hecke sitzt“. Schreibt man Hagazussa in Runenschrift, erschließen sich noch ganz andere Hintergründe:

 HagaZussa

Die mittlere Rune z habe ich bewusst hervorgehoben. Diese Rune wird in der germanischen Mythologie mit dem Weltenbaum assoziiert. Und genau hier kann man einhaken, ich darf auf den Anfang des Artikels hinweisen, wo der Weltenbaum, der in vielen schamanischen Kulturen vorkommt, erwähnt wird. Betrachtet man die anderen Runen, insbesondere h und s (Vorsicht! Mit dem braunen Müll, den die Nazis mit dieser Rune veranstaltet haben, möchte ich hier gar nichts zu tun haben!), dann stellt man fest, daß man das Wort Hagazussa mit „Geschehen um den Weltenbaum“ umschreiben kann. Mein ausdrücklicher Dank geht hier an Christian Rätsch, von dem ich diese Überlegungen in einem Vortrag und einem Buch von ihm mitbekommen habe(siehe 4). Die Hecke war früher der Bereich zwischen dem Dorf und der „wilden“ Welt draußen. In letzterer, den Wäldern, waren die Geister nach der alten Vorstellung. Jemand, der „auf der Hecke sitzt“, ist in der Lage, gleichzeitig in beide Welten, die der „zivilisierten“ Welt der Menschen und der „wilden“ Welt der Geister zu schauen und somit auch zwischen beiden zu vermitteln – eine klassische Aufgabe des „typischen“ Schamanen.

Betrachtet man die Quellen, in denen den Hexen der berühmt-berüchtigte Ritt auf dem Besenstiel, die Verwendung von Hexensalben zum Erreichen desselben und der Verkehr mit Dämonen zur Last gelegt wird, dann fällt auf, daß es, wenn man mal die christlich eingefärbte „Berichterstattung“ wegnimmt, recht große Ähnlichkeiten zur klassischen Schamanenreise gibt. In beiden Fällen fliegt die Seele in andere Welten, kontaktiert dort Geister und arbeitet auf die eine oder andere Weise mit ihnen (zu erwähnen sei noch der „Familiar“ einer Hexe, meist eine Katze, Kröte, Schlange oder ähnliches, und das „Krafttier“ der Schamanen).

Gehen wir weiter nach Norden, dann begegnet uns eine Zauberei, die in der Edda und anderen Quellen als „Seidr“ bezeichnet wird. Auch wenn Etymologen das abstreiten, wird „Seidr“ meistens mit „Sieden“ übersetzt. Nimmt man nun das tungusische Wort „shaman“, und von dort kommt die Bezeichnung „Schamane“ her, dann stellt man fest, daß auch das mit „verzückt sein, mit Hitze arbeiten“ übersetzt wird. Beides, Seidr und Shaman, beschreibt damit im Grunde dasselbe. Zwar hat Seidr immer auch den Beigeschmack von etwas Verruchtem, Bösen gehabt, was aber erstens auf christliche Einflüsse zurückzuführen ist und zweitens auch nicht vollständig von der Hand zu weisen ist – auch im indigenem Schamanismus wird handfest gehext. Typisches Beispiel: die südamerikanischen Stämme mit ihren Geisterpfeilen, die Schamanen, die sich nicht grün sind, aufeinander abschießen.

Betrachtet man die Gestalt des Odin, dann fallen auch hier sehr schamanische Züge auf. Er erfuhr seine Initiation durch die schon erwähnten 9 Nächte am Weltenbaum, die Göttin Freyja brachte ihm Seidr bei, und er ist ein unermüdlicher Wanderer und Sucher nach Weisheit und Wissen. Oft wird er einäugig und mit einem breitkrempigem Schlapphut auf dem Kopf beschrieben, meine persönliche Vermutung liegt darin, daß hier auf eine Einengung der „weltlichen“ Sicht zugunsten der Schau in der Geisterwelt verwiesen wird – viele sibirische Schamanen haben Fransen an ihrem Kopfschmuck, die die Augen verdecken und so die Trance durch Irritation und sensorischen Deprivation fördern. In einigen Geschichten liegt Odin auch wie tot da, während sein Geist in Form einer Schlange oder eines Adler „reist“. Auch seine Wölfe und Raben verweisen auf helfende Tiergeister. Odin wird außerdem „der große Zauberer“ genannt und taugt meines Erachtens durchaus als Vorbild für einen mitteleuropäischen Schamanismus.
In den keltischen Sagen und Märchen wird oft von Trollen, Elfen und Kobolden erzählt. Sie sind ein Äquivalent zu den Geistern der Natur, mit denen der Schamane allgemein umgeht, es sind nur andere Namen. Auch hier gab es Leute, die mit diesen Wesenheiten in Kontakt treten und sich mit ihnen austauschen konnten. In Island gibt es z.B. heute noch „Elfenbeauftragte“, deren Beruf absolut ernst genommen wird. Möchte jemand ein Haus bauen, dann kontaktiert er eine solche Person, die dann überprüft, ob auf dem fraglichen Baugebiet Leute vom „schönen Volk“ oder „kleinem Volk“ wohnen und verhandelt mit denen. Es steht für die Isländer fest, daß es Unglück bringt, ein Haus einfach auf ein „Elfengrundstück“ zu bauen, ohne sich vorher mit denen arrangiert zu haben.

Noch weiter im Norden trifft man das Volk der Sami an. Deren Schamanen, die Noaidi, arbeiteten sehr viel mit der Trommel, deren Haut mit typischen Zeichen der schamanischen Kosmologie bemalt war. Zum Beispiel sah der Noaidi die Zukunft aus der Trommel, indem er einen kleinen Gegenstand auf deren Zentrum legte und sie dann schlug. Je nachdem, wie der Gegenstand („Frosch“) sich durch die Vibrationen über die verschiedenen Zeichen bewegte, so fiel die Antwort auf die gestellte Frage aus. Das Divinieren mit der Trommel war übrigens nicht nur den Schamanen vorbehalten, sondern auch Volksbrauchtum. Aus meiner Sicht gibt es Ähnlichkeiten in der „germanischen“ (in Sinne der skandinavischen) und samischen Mythologie, und ich persönlich vermute, daß der Seidr und das Arbeiten der Noaidi in einigen Punkten recht ähnlich war. Auch hier hat leider die Missionierung ganze Arbeit geleistet – viele Trommeln wurden verbrannt, und wenn es dort noch Noaidi gibt, so sind die überwiegend in den Untergrund gegangen.

Wozu dieser Exkurs? Weil dadurch klar wird, daß es auch in unseren Breiten „Schamanismus“ gab, nur nannte man das anders. Und jetzt kehren wir zum Anfang des Artikels zurück. Mit Hilfe der von Michael Harner vermittelten Basistechniken kann man diese alten Quellen sehr schön erforschen und in die schamanische Arbeit integrieren. Das gilt auch für die grundsätzlichen Heiltechniken, die ja auch weiter oben angeführt wurden. Das Problem ist, daß dieser „Neoschamanismus“ bis heute nicht richtig ernst genommen wird. Entweder steckt man ihn in die Esoterikecke oder verweist auf anerkannte indigene Schamanen, die als authentisch gelten. Es wird hier eines vergessen: initiieren tun den Schamanen letzten Endes die Geister. Das gilt in den indigenen Kulturen, und das gilt auch für hiesige Leute mit einer schamanischen Begabung. Den Geistern ist es egal, ob der Beruf Schamane sozial anerkannt ist oder nicht. Ich hoffe, mit diesem Artikel ein wenig beigetragen zu haben, daß diese Zunft langsam mal ernst genommen wird.


Der Schamanismus in der Naturheilkunde

Wo hat der Schamanismus hier seinen Platz? Nun, er bietet die Möglichkeit, Krankheit in ihren „nichtsichtbaren“ Aspekten anzugehen und auf dieser Ebene mit ihr zu arbeiten. Dazu gehören natürlich nicht hochakute Zustände, aber undifferenzierte oder medizinisch ungeklärte Fälle können von dieser Warte aus betrachtet und angegangen werden. Ein weites Feld bieten hier z.B. die psychosomatischen Erkrankungen oder leichtere Formen psychischer Erkrankungen (Ausnahme: Psychosen, hier bewirkt Schamanismus eher gegenteilige Effekte, da der Klient eher „gelockert“ wird während der Sitzung). Klassische Fälle sind Beschwerden nach Mobbing oder depressive Zustände nach einschneidenden Erlebnissen. Mit „schamanischen Augen“ betrachtet macht das durchaus Sinn: Mobbing kann durchaus als nicht bewusstes Abschießen von „Geisterpfeilen“ auf den Patienten betrachtet werden, während bei der Depression oft ein Seelenteilverlust vorliegt. Sehr oft sagt der Klient ja hier auch: „Mir fehlt etwas, ich bin nicht vollständig!“ Aus Gründen der Seriosität, der besseren Überwachung und des Erzielens besserer Erfolge empfiehlt sich eine begleitende Psychotherapie. Oftmals kommen nach einer Seelenrückholung alte Erinnerungen, die vorher mit dem verschwundenem Seelenteil „weg“ waren, zurück und sind dem Therapeuten erst dann richtig zugänglich.
Psychosomatische Krankheiten und alte, überkommene Muster können in der schamanischen Trance als Gegenstände oder Wesenheiten im Klienten wahrgenommen und entsprechend bearbeitet werden. Ein weites Feld bietet sich auch in der Arbeit, welche ich eigentlich von der Theologie her als „Seelsorge“ kenne und was dann auch wortwörtlich so verstanden werden kann. Da in klassischen Stammeskulturen der Schamane auch derjenige war, der den Sterbevorgang überwachte und die Totenseele ins Jenseits geleitete, wäre es z.B. theoretisch möglich, in Hospizeinrichtungen schamanische Techniken, sowohl beim Sterbenden als auch bei den Angehörigen, anzuwenden, um Übergang und Abschied zu erleichtern. Dafür ist allerdings die Gesellschaft noch nicht „so weit“, und es dürfte Probleme mit den oft christlich orientierten Hospizen geben. Als selber schamanisierender Theologe würde ich mir aber vom Herzen wünschen, daß mehr Christen sich damit beschäftigen würden. Mit der Religion wird es keine Probleme geben, eher mit der Institution.
Zwar ist der Schamanismus sicher nicht das „erste Mittel der Wahl“ für jeden, aber ich hoffe, mit diesem Artikel zumindest ein wenig angerissen zu haben, daß schamanische Techniken in unserer Gesellschaft sowohl möglich als auch eventuell nötig sind (im Sinne von einer Wiederbeseelung der Welt), und daß auch in unserer Kultur ein zeitgenössisches Schamanentum möglich ist – zwar gerade im Werden, aber hoffentlich in Zukunft etabliert und vom esoterischen Supermarkt emanzipiert. Wir müssen dafür nicht mehr zu anderen Völkern rüberschielen.


zu 1: So Herr Fenkart in der ORF-Sendung „Help TV“ vom 8. November 2007. Sinngemäß behauptete er, jeder könne in 6 Wochenendkursen Schamane werden
zu 2: Harner gründete Anfang der 80er dann die Organisation „The Foundation for Shamanic Studies (FSS), die weltweit in Seminaren schamanische Techniken vermittelt, auch an indigene Kulturen, um deren Schamanismus wiederzubeleben. Tuva ist hierfür ein erfolgreiches Beispiel, denn hier fasste der Schamanismus nach der Wende wieder Fuß.
zu 3: Zeremonie der Indianer Südamerikas, in der die Trance durch eine halluzinogenes Getränk namens Ayahuasca –„Ranke der Toten“, so die Übersetzung dieses Wortes- ausgelöst wird.
zu 4: Gemeint sind hier ein Vortrag im Mai 2007 bei Natura Naturans und sein Buch „Der Heilige Hain“