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  (Seminare und Einzelsitzungen)

Distelchen und Blümchen




s war einmal ein Gärtner, der hatte zwei Töchter, die eigentlich M a r i e und M i n a hießen ; kein Mensch nannte sie aber so, sondern von klein auf ward die älteste Blümchen, die jüngste aber Distelchen oder auch Distel schlechtweg gerufen. Das kam daher, daß das erste Kind des Gärtners von Geburt an überaus hübsch und zart aussah, so daß er es gleich sein Blümchen nannte. Dies fand jedermann so natürlich und passend, daß man es bei diesem Namen ließ, obgleich sie Marie getauft worden war. Die zweite Tochter, die ein Jahr später auf die Welt kam, war aber nichts weniger als hübsch, und als das neugeborene Kindchen dem Vater gezeigt wurde, sagte er : "Die sieht ja so borstig aus wie eine Distel !" - So kam die arme kleine Mina auch um ihren richtigen Taufnamen. Unglücklicherweise hatte der Storch, als er sie brachte, die Mutter so stark ins Bein gebissen, daß sie daran starb, und da der Gärtner seine Frau sehr liebgehabt hatte, war das die Ursache, daß er das kleine Mädchen nicht recht leiden konnte. Das war nun freilich sehr ungerecht, denn sie konnte doch nichts dafür, daß die Mutter um ihretwillen hatte sterben müssen. Ebensowenig war es Blümchens Verdienst, daß sie der toten Mutter mit jedem Tag ähnlicher und deshalb von dem Gärtner auf jede Art gehätschelt und verzogen wurde. Während Blümchen immer schöner, blonder und weißer wurde, ward Distelchen immer sommersprossiger und brauner; ihre widerspenstigen schwarzen und krausen Haare ließen sich niemals glatt bürsten und ringelten sich immer wieder von neuem. So lange Distelchen noch klein war, war auch ihre Art und Weise ebenso borstig wie ihr Haar; wenn eine stets zurückgesetzt, in die Ecken geschoben und gescholten wird, so kommt es leicht zu übler Laune bei ihr, was man ihr nicht gar zu schlimm auslegen dam. Im Grunde des Herzens war Distelchen aber sehr gutmütig, viel besser als das schöne Blümchen, die voll Eitelkeit und Hochmut steckte und dabei noch einen recht häßlichen Neid auf ihre Schwester in sich trug. Seit nämlich Distelchen größer wurde und selbst etwas nachdenken und vergleichen konnte, hatte sie wohl eingesehen, wie häßlich sie sei und wie schön dagegen ihre Schwester, und da sie überaus bescheiden war, fand sie es nun ganz natürlich, daß der Vater Blümchen lieber habe. Auch kam es ihr von der Zeit an gar nicht mehr ungerecht vor, daß sie, die borstige Distel, alle grobe und schmutzige Arbeit tun mußte, während das feine Blümchen vorn im Verkaufsladen saß und nichtsweiter zu tun hatte, als Sträuße zu binden, Treibhausblumen zu pflegen und mit den Stadtleuten zu plaudern, die täglich vor das Tor hinauskamen, um von der schönen Gärtnerin Blumen einzukaufen. Bei dieser Einteilung der Beschäftigung kannten viele die ältere, aber nur wenige Leute die jüngere Schwester, und diese wenigen waren meist geringe, einfache Leute. Aber das schöne Blümchen konnte bald merken, daß diese alle die häßliche Schwester ihr bei weitem vorzogen. Distelchen war so bescheiden, so gefällig, immer bereit, jedem hilfreich zu sein, daß alle, die öfter ins Haus kamen, ihr überaus gut waren und ihre stillen Tugenden oft in Gegenwart des eitlen Blümchens lobten, die sich um keinen Menschen kümmerte, als um sich selber. Das verdroß nun das verwöhnte Blümchen über die Maßen, bis zuletzt ihr Neid gegen die Schwester förmlich zum Hasse ausartete, so daß sie alle Tage von neuem wünschte, ihrer los zu sein. Eines Tages, nachdem Distelchen alle Küchen- und Hausarbeit beendigt hatte, zog sie sich reinlich an, um sich noch ein Stündchen in den Garten zu setzen und zu spinnen. Da es ein heißer Tag war, setzte sie sich neben den Ziehbrunnen, wo es am kühlsten schien, und spann eifrig darauf los. Als die Sonne untergegangen war, legte sie ihre Spindel auf den Rand des Brunnens und wand den Eimer herauf, um die Blumenbeete zu begießen. Dabei stieß sie unglücklicherweise an die Spindel, die ganz voll Flachs gesponnen war, und warf sie in den Brunnen hinunter. Distelchen erschrak sehr, denn die Spindel gehörte nicht ihr, sondern einer alten Base, die ohnehin das ganze Jahr über keifte und schalt und die sie ihr nur nach vielen Bitten geliehen hatte. Ängstlich lief Distelchen ins Haus und bat ihre Schwester, sie im Eimer in den Brunnen hinunterzulassen, damit sie die Spindel wieder herausfischen könne. Blümchen war schon im Begriff, ihr eine abschlägige, unfreundliche Antwort zu geben; auf einmal kam ihr aber ein arger Gedanke, und so sagte sie mit erzwungener Freundlichkeit : "Recht gern, Distelchen, komm nur !" Distelchen stieg also in den Brunneneimer, hielt sich mit beiden Händen an den Ketten fest und ließ sich von der Schwester hinabwinden, obgleich es ihr recht schaurig zumute ward, als sie die Sonne nicht mehr sah, sondern nur die grauen Brunnenwände rings um sich her. Wie froh war sie daher, als sie endlich das Wasser auf dem Grunde des Brunnens sah und ihre Spindel erblickte, die oben darauf schwamm. Mit lauter Stimme rief sie hinauf: "Blümchen, laß jetzt den Eimer stillehalten !" und bückte sich nach der Spindel. In demselben Augenblicke aber, als sie diese erfaßt hatte, schwankte plötzlich der Eimer und fuhr gleich darauf mit Distelchen gewaltsam durch das Wasser hinab, bis auf den Boden des Brunnens. Das arglistige Blümchen hatte nämlich, sobald sie hörte, daß ihre Schwester drunten am Wasser angelangt sei, die Kette losgehakt, die den Eimer am Brunnenhäuschen befestigte, und ihn so in die Tiefe stürzen lassen. "Jetzt brauche ich mich nicht mehr alle Tage zu ärgern und die häßliche, borstige Distel auf meine Kosten loben zu hören !" dachte das böse Mädchen trotzig, während sie ins Haus zurückging. Als das arme Distelchen aus der ersten Betäubung nach ihrem plötzlichen Sturze wieder zu sich kam und ängstlich um sich blickte, sah sie zu ihrem Trost, daß in der Brunnenmauer hier unten eine Öffnung war, die ins Freie zu führen schien. Sie bückte sich und kroch schnell hinaus, über und über naß, mit ihrer Spindel in der Hand. Als sie sich draußen aufrichtete, sah sie vor sich eine weite grüne Wiese, auf der eine Menge ganz kleiner Leutchen sich umherbewegten. Das waren die Erdmännchen und Erdweiblein. Die kleinen Männer trugen graue Röckchen, die ihnen bis an das bloße Knie gingen, und hatten lange, auf die Brust herabfallende Bärte; die Weiblein dagegen hatten braune Jacken an und spitzige Hütchen auf dem Kopfe. Als sie Distelchen erblickten, liefen sie alle herbei, bildeten einen Kreis um sie her und sprachen und schrien sämtlich zu gleicher Zeit, so daß es ihr anfangs unmöglich war, ein Wort zu verstehen. Nach und nach unterschied sie aber die kleinen, kreischenden Stimmen voneinander, und da fand sie heraus, daß jedes der Weiblein ein Anliegen an sie hatte. Die eine verlangte, sie möge ihre Kuh melken, die andere bat, ihr einen Dorn aus dem Fuß zu ziehen, den sie sich eingetreten hatte, die dritte forderte, sie möge doch, weil sie so groß wäre, ihr Hütchen vom Apfelbaum herunterlangen, auf den ihr's aus Schabernack eines der Erdmännchen gehangen hatte - und so brachte jedes ein anderes Anliegen vor. Distelchen nickte allen freundlich zu und tat der Reihe nach alles, was von ihr verlangt wurde, obgleich viel Zeit darauf ging und sie bei all den Verrichtungen ganz müde wurde. Zuletzt mußte sie noch bei einem kleinen Erdkindchen Gevatter stehen, das war so klein, daß sein Gesichtchen nicht größer aussah als ein Zweigroschenstück, und das Distelchen, während es getauft wurde, in der hohlen Hand hielt. Es bekam auch einen sehr kuriosen Namen, denn es sollte Evekattel heißen. Nachdem alles verrichtet war und Distelchen sich ein bißchen ausgeruht hatte, bat sie die Erdweibchen, ihr zu sagen, wie sie es anfangen müsse, um wieder nach Hause zu kommen. "Ja", sagte die größte Erdfrau, "das geht nicht so geschwinde. Wo du heruntergekommen bist, kannst du nicht wieder hinauf. Du mußt eine weite Reise hier unten machen, dann kommst du nach und nach langsam aufwärts, bis du an dem großen Berg angelangt sein wirst, durch den wieder ein Weg nach eurer Welt hinausführt. Wenn ich dir Gutes raten soll, so bleib du lieber hier unten bei uns, du sollst es auch gut haben !" "Nein, nein!" sagte Distelchen bittend, "sagt mir lieber den Weg, den ich wandern muß ; ich mache mir nichts dar- aus, wenn es auch weit ist, denn ich möchte doch wieder nach Hause gehen !" "Nun", erwiderte das Erdweiblein, "wenn du nicht anders willst, so werde ich den Geiger rufen, der geht jeden Neumond von hier aus auf Wanderschaft in die Welt hinauf, und jetzt ist gerade seine Zeit gekommen. Der wird dich führen und dir den rechten Weg zeigen. Sei bedankt für alles, was du uns zuliebe alles getan hast. Wenn du erst wieder droben bist, sollst du bald merken, daß die Erdweiblein dir dafür auch hilfreich sein werden." Damit ging sie, den Geiger herbeizuholen. Der war nichts anderes als auch ein Erdmännchen, aber er hatte eine Geige im Arm, und nachdem er Distelchen gesagt hatte, sie möge nur immer hinter ihm hergehen, fing er an, immer lustig zu geigen und mit seinen kleinen Beinchen dabei flink auszuschreiten. Es war ganz sonderbar, während dieser Musik fühlte Distelchen weder Müdigkeit noch Hunger und Durst, obgleich sie viele Stunden lang hinter ihm herwanderte, nur lauter Fröhlichkeit kam bei den süßen Geigentönen in ihr Gemüt! Nacht ward es hier unten gar nicht, zwar gab es auch kein Sonnenlicht, aber ein sanfter Schein erhellte alles mit immer gleicher Deutlichkeit, und Distelchen wurde gar nicht schläfrig, sondern konnte in einem fort wandern und wandern. Endlich kamen die Reisenden an eine große prächtige Stadt, und vor derselben hielt der Geiger zum ersten Male an und hörte auch auf zu spielen. Distelchen setzte sich auf einen Stein und wartete, bis er wieder vorwärtsgehen würde. Auf einmal sah sie ihn gar nicht mehr, statt seiner erschien aber eine schöne leuchtende Jungfrau, die über dem Boden zu schweben schien und sie mit singender Stimme fragte, zu welchem Tore sie einziehen wolle, zum Rosentor oder zum Dornentor ? Schüchtern antwortete Distelchen: "Zum Dornentor !", denn sie war ja von jeher daran gewöhnt, daß für sie immer das Schlechteste ausgesucht wurde, und so glaubte sie in ihrer Bescheidenheit, das Rosentor würde gewiß nicht für sie passen. Als sie aber so gesprochen hatte, lächelte die Jungfrau holdselig, faßte sie bei der Hand und schwebte in tanzendem Schritt mit ihr zu einem hohen gewölbten Eingangstore, das aus lauter dichtgeflochtenen, wunderschön duftenden Rosenkränzen gebildet war und durch einen langen, mit lauter blühenden Rosen gleichsam austapezierten Gang in die prächtige Stadt hineinführte. Während Distelchen hindurchschritt, fiel ein Regen frischer Rosenblätter auf sie, hüllte sie einen Augenblick ein und sank dann zu ihren Füßen nieder. Ihr war dabei zumute, als würde ein schweres lästiges Gewand von ihr abgestreift. Das war aber nichts anderes als ihre Häßlichkeit, die von ihr abfiel und sich in das lieblichste Angesicht und die holdeste Gestalt verwandelte. Dabei konnte man das alte Distelchen aber immer noch erkennen, denn ihre Herzensgüte und ihre Bescheidenheit, die den wahren Ausdruck ihres Gesichtes ausmachten, waren ganz unverändert darauf zu lesen. Voll Staunen und Glückseligkeit blickte sie nun in der wunderschönen Stadt umher; alles leuchtete dort von Schönheit, die Häuser wie die Einwohner. Die Leute, die sich auf den Straßen sehen ließen, gingen nicht umher wie wir Menschen, sondern sie tanzten statt dessen, und statt zu sprechen, sangen sie einander mit der süßesten Stimme zu, was sie sich sagen wollten. Die holde Jungfrau, die Distelchen hereingeleitet hatte, sang ihr nun entgegen : "Vo willst Du jetzt Dich ruhen aus ? Im weißen oder im schwarzen Haus ?" Bescheiden, wie immer, wählte Distelchen das schwarze Haus, ward aber, immer tanzend, in einen prachtvollen, ganz aus Silber aufgebauten Palast geführt und dort wieder gefragt : "Willst Du goldenen Flachs vom Rocken spinnen und dabei einen großen Schatz gewinnen ? Oder willst du bleiben im Dunkeln gefangen Und Mittags essen mit Katzen und Schlangen ?" Diesmal schwieg Distelchen ganz still, denn daß sie sich selbst ausbitten sollte im Dunkeln gefangen zu sitzen und mit Schlangen und Katzen eine Mahlzeit zu halten, dazu konnte sie sich doch nicht entschließen; goldenen Flachs zu spinnen und Schätze zu begehren, erschien ihr aber andererseits ein so unbescheidenes Verlangen, daß sie lieber gar nichts sagte. Wahrscheinlich las ihre Führerin die stillen Gedanken in ihrer Seele, denn sie wartete nur einen Augenblick auf Antwort, und als keine kam, leitete sie Distelchen in einen prachtvoll funkelnden goldenen Saal. Dort saßen elf Spinnerinnen, eine schöner wie die andere, und spannen goldenen Flachs. Ein Sitz war noch leer, auf diesen führte die schöne Jungfrau, beständig tanzend, das erstaunte Distelchen, berührte ihre aus der Oberwelt mitgebrachte Spindel mit der Fingerspitze, rückte einen mit goldenen Flachs bewickelten Rocken vor sie hin und tanzte dann zum Saal hinaus. Der Flachs auf Distelchens Spindel war ebenfalls zu lauter Goldfaden geworden, und mit Fröhlichkeit spann sie nun eifrig, während die anderen Spinnerinnen fortwährend die süßesten Lieder sangen. Als Distelchen in kurzer Zeit ihre ganze Spule leer gesponnen hatte, erhoben sich alle Jungfrauen, nahmen ihre Spindeln mit sich und hießen sie singend ein Gleiches tun und ihnen folgen. Sie begaben sich in einen anstoßenden Saal, der ganz aus purpurrotem Glas bestand; nur der Boden und ein großer Tisch, der in der Mitte stand, waren von Silber. Rings um den Tisch, auf dem die köstlichste Mahlzeit angerichtet war, standen zwölf silberne Sessel und Distelchen nahm auf das Gebot der Jungfrauen mit ihnen dort Platz. Während sie sich an den herrlichen Speisen und Früchten labte, sah und hörte sie auch ihren früheren Führer, den kleinen Geiger, wieder. Er saß mitten auf dem Tisch, auf dem Deckel einer Pastete und geigte die schönsten Weisen. Als die Mahlzeit beendet war und alle sich erhoben, trippelte der Geiger zu Distelchens Platz, gebot ihr, ihn vom Tisch herunterzuheben und sich bereit zu halten, die Reise jetzt wieder fortzusetzen. Distelchen schürzte sogleich ihr Gewand, dankte den Jungfrauen und bat ihr zu sagen, wohin sie die Spindel mit dem goldenen Flachs legen solle. Zugleich fügte sie in sehr bescheidenem Ton die Bitte hinzu, ihr womöglich eine leere, einfache Spindel zu geben, weil die, die sie zurückließ, nicht ihr gehöre, sondern ihrer Base. Die Jungfrauen lachten, gaben ihr die Spindel mit dem goldenen Flachs, die sie ihnen gereicht hatte, zurück und sagten, sie sei ihr Eigentum; denn was man im weißen Haus selbst gesponnen habe, das gehöre stets der Spinnerin. Freudevoll bedankte sich Distelchen nochmals und folgte nun dem Geigenspieler, der durch ein zweites Rosentor, das aber nicht wie das Eingangstor aus roten, sondern aus weißen Rosen bestand, die Stadt verließ. Als sie das Tor durchschritten, fiel wieder ein Regen von Rosenblättern herab und hüllte die Wanderer ein; sowie die duftigen Blättchen zur Erde gefallen waren, fühlte Distelchen mit Erstaunen, daß ihr Fuß sich von der Erde hob und sie sich fortbewegte, ohne selbst zu wissen, wie. Voll Verwunderung blickte sie nach dem geigenden Erdmännchen vor ihr und sah, daß es jetzt zwei große, große Schmetterlingsflügel an den Schultern trug, mit denen es vor ihr herflog. Geschwind fühlte Distelchen an ihre eigenen Schultern und merkte nun wohl, weshalb sie so leicht und angenehm von der Stelle kam. Auch ihr waren Flügel gewachsen, aber keine Schmetterlings-, sondern Taubenflügel. Wie wonniglich war nun die Reise. Das Erdmännchen geigte in einem fort, das Fliegen war ein wunderschönes Gefühl, und der goldene Flachs auf ihrer Spindel funkelte ihr heiter in die Augen. So flogen die beiden, bis sie an einen Berg kamen, an dem eine kleine Tür zu sehen war. Hier ließ sich der Geiger zur Erde nieder, streifte mit der Hand seine Schmetterlingsflügel von den Schultern und sagte zu Distelchen: "Tue wie ich. Wir sind jetzt an der Grenze des Landes der Singenden und Tanzenden, nun betreten wir die Welt, in der du zu Hause bist, da geht's mit dem Fliegen nicht mehr! Es dauert aber nicht lange, so bist du daheim, wir müssen nur noch durch den Berg." Distelchen streifte die Taubenflügel ab und folgte dem Geiger in den Berg hinein, wo es zwar etwas dunkel, der Weg aber nicht allzu lang und sehr bequem war. Als sie auf der andern Seite des Berges herauskamen, fand Distelchen sich sogleich zurecht - das war ja der Weinberg, an dessen Fuß ihres Vaters Garten lag, und dicht vor ihr stand dort ja ihr elterliches Haus ! Schon sah sie Blümchen am Fenster sitzen ! Dem guten Distelchen sprang das Herz vor Freuden, denn nicht im entferntesten war es ihr je in den Sinn gekommen, daß ihre Schwester mit Willen den Eimer hatte fallen lassen; sie glaubte, die Kette sei zufällig gerissen. Ehe Distelchen auf das liebe Vaterhaus zueilte, wandte sie sich noch einmal um, dem Geiger für sein Geleit zu danken. Das kleine Männchen stand noch im Innern des Berges, dicht neben dem Ausgang, und als Distelchen ihn freundlich einlud, mit in ihr Haus zu kommen, um sich dort zu laben und auszuruhen, sagte er : "Danke schön, aber ich mache mir nicht viel aus dem Sonnenlicht, hier im Berg gefällt es mir besser, und ich habe schon meine Wege und Stege, wo ich durch die Welt kommen kann, ohne mir von der Sonne die Augen ausstechen zu lassen. Willst du mir aber was zuliebe tun, so gib mir einen Kuß !" Bereitwillig bückte sich Distelchen, denn obgleich der Geiger ein recht runzeliges häßliches Gesicht hatte, gab sie ihm sehr gern ein Liebeszeichen. Das kleine Männchen lachte vor Freuden und sagte: "Nun sollst du auch erfahren, warum ich mich von dir habe küssen lassen ! Ich wollte nur, weil du ein so gutes Menschenkind bist, dir etwas schenken und das hast du jetzt ! Die Lippen, die den Erdgeiger geküßt haben, können alle seine Weisen singen und das kann sonst kein Mensch auf der Welt !" Damit schlüpfte das Erdmännchen in den Berg zurück und Distelchen lief, so schnell ihre Füße sie trugen, auf das Haus zu. Im ersten Augenblick erkannte ihr Vater, dem sie gleich um den Hals fiel, sie gar nicht, wegen ihrer Schönheit; als er aber ihre treuen, guten Augen sah und ihre Stimme hörte, wußte er, es sei wirklich sein Distelchen, und drückte sie voller Freude ans Herz. Seit der Woche, die vergangen war, nachdem sie, wie Blümchen erzählt hatte, sich zu weit übergebeugt hätte und in den Brunnen gefallen war, merkte der Vater erst, welch ein Segen für das ganze Haus das gute, bescheidene und immer fleißige Kind war. Blümchen war viel zu bequem, um für Haus und Küche zu sorgen, und so war Distelchen täglich und stündlich vermißt worden und fehlte dem Vater überall. Er machte sich die bittersten Vorwürfe darüber, daß er dem armen Mädchen immer so lieblos begegnet war. Darum war er jetzt auch ganz außer sich vor Freude! Blümchen dagegen war eben so außer sich vor Schreck und Neid, als sie sehen mußte, wie schön die verhaßte Schwester geworden war, und als es sich zeigte, daß sie durch die große Menge echten Goldes, das sie auf ihrer Spindel zurückgebracht, zu großem Reichtum gelangte. Dazu kam noch, daß Distelchen seit ihrer Rückkehr mit einer köstlichen Stimme so wundersüße Weisen singen konnte, daß man bald im ganzen Lande von nichts anderem sprach als von ihr, und die Leute von weither gepilgert kamen, um sie zu hören. Um Blümchen, die sonst doch auch unter dem Namen der schönen Gärtnerin berühmt gewesen war, kümmerte sich jetzt kein Mensch mehr. Das konnte das neidische Blümchen gar nicht aushalten und sann Tag und Nacht, wie sie es anfangen solle, die Schwester wieder zu verdunkeln. Sie faßte heimlich den Plan, ebenfalls in den Brunnen hinunterzugelangen und sich dort noch viel größere Reichtümer und Gaben zu er- beuten, doch sollte vorher kein Mensch etwas davon wissen. Weil sie selbst neidisch und boshaft war, meinte sie, niemand würde es ihr gönnen, daß sie ihr Glück machte. Deshalb ging sie eines Nachts ganz allein und heimlich an den Ziehbrunnen, stieg in den neuen Eimer und hakte selbst dann die Kette los, die ihn festhielt. Hinunter kam sie auf diese Art freilich und schneller als ihr lieb war; der Eimer stürzte mit solcher Geschwindigkeit hinab, daß sie heraus- flog und im Wasser drunten jämmerlich ertrank. Damit war ihr mit ihrem arglistigen, mißgünstigen Gemüt aber ganz recht geschehen ! Dem guten Distelchen dagegen glückte seit ihrer Brunnenfahrt alles, was sie unternahm. Sie hätte mit ihrem vielen Golde freilich sich dem Nichtstun und Wohlleben überlassen können, aber das gefiel ihr nicht, denn sie liebte Arbeit und Tätigkeit. Was sie aber in Hof und Haus angriff, das gelang ihr unter den Händen so rasch und vorzüglich, daß alle Menschen darüber staunten. Das kam aber nur daher, weil die Erdweiblein ihr heimlich Hilfe leisteten, wie sie es versprochen hatten.

aus dem Buch "Das Zauberschloß, unbekannte alte Kindermärchen", 1948 München