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  (Seminare und Einzelsitzungen)

Die Alte im Wald




s waren einmal zwei Kinder, Bruder und Schwester, die lebten mit ihren Eltern in einem kleinen Häuschen in einem Dorf. Doch sie waren sehr arm, so daß es oft Tage gab, an denen die Kinder hungrig ins Bett gehen mußten. Die Eltern machten sich viele Sorgen darüber, wie sie ihre Kinder richtig ernähren sollten und fanden nachts keinen Schlaf.
Eines Tages klopfte eine alte Frau an ihrer Tür und sprach zu ihnen: " Ich weiß, liebe Leute, ihr seid arm und macht euch Sorgen um die Zukunft eurer Kinder. Gebt sie zu mir, ich kann Hilfe gebrauchen und zu Essen gibt es bei mir auch genug." Die Eltern überlegten hin und her und willigten schließlich schweren Herzens ein. Die alte Frau bewohnte ein Häuschen mitten im Wald und lebte von dem Verkauf von heilkräftigen Kräutern. Auch kamen ab und zu Leute zu ihr, die etwas auf dem Herzen hatten und fragten sie um Rat.
Am nächsten Tag gingen die Eltern mit ihren Kindern in den Wald, um sie zu der alten Frau zu bringen. Als es Mittag wurde und die Sonne schon hoch am Himmel stand, sprach der Sohn: " Liebe Eltern, laßt uns hier Abschied nehmen, damit ihr rechtzeitig vor der Dunkelheit Zuhause seit. Wir finden den Weg schon alleine." Traurig nahmen die Eltern Abschied von ihren Kindern und machten sich auf den Heimweg.
Die beiden Geschwister aber gingen tiefer und tiefer in den Wald hinein. Der Weg führte vorbei an alten knorrigen Bäumen, die mit Moos bewachsen waren, vorbei an Holunderbüschen und lief ein Stück neben einem Bachlauf her.
Es wurde langsam dunkel, als sie in der Ferne durch die Blätter hindurch ein kleines Haus sahen. Die Fenster waren hell erleuchtet und aus dem Schornstein quoll Rauch empor. Freudig liefen die Kinder auf das Häuschen zu und klopften an die Tür. "Klapper, klapper, Mäuschen, wer klopft da an mein Häuschen ?", ertönte eine Stimme von drinnen. "Der Wind, der Wind, das himmlische Kind", gaben die Kinder zur Antwort und lachten. Da öffnete ihnen die Alte die Tür und ließ sie ein.
Das Haus bestand aus einem einzigen Zimmer. An einer Wand befand sich eine Feuerstelle, über der ein großer Kessel hing. Am Kaminsims war ein Regal befestigt, auf dem einige Töpfe, Tiegel und Schüsseln standen. An einer anderen Wand standen zwei kleine Betten, an der gegenüberliegenden Wand stand ein Bett und eine Truhe. Von der Decke herab hingen mehrere Büschel von getrockneten Kräutern, die einen angenehmen Geruch verbreiteten. In der Mitte des Zimmers stand ein Tisch mit drei Stühlen. Die alte Frau lud die Kinder ein, sich zu setzen und brachte ihnen das Abendessen. Warme Milch dampfte in den Tassen vor ihnen, in ihren Schüsseln befand sich heißer Brei und dazu gab es noch ein Stückchen Brot. So viel hatten die Kinder in ihrem ganzen Leben noch nicht gegessen.
Nach dem Essen brachte die Alte sie in ihre Betten und erzählte ihnen noch eine Geschichte. Während sie müder und müder wurden und ihnen die Augen vor Schwere zufielen, sprang die alte schwarze Katze, die vor dem Kamin gedöst hatte, auf das Bett des Mädchens, rollte sich an ihrem Fußende zusammen und begann wohlig zu schnurren. Friedlich schliefen die beiden ein.
Am nächsten Morgen erwachten sie recht früh. Sie wuschen sich in dem klaren Wasser des Baches, der nahe am Haus vorbeilief und machten sich dann an ihre Arbeit. Da die Alte tagsüber viel unterwegs war, sorgten die Kinder für Ordnung im Haushalt, machten sauber, hackten Feuerholz, kochten Essen, versorgten die Katze, die Ziege und die Hühner und kümmerten sich um den Kräutergarten, der hinter dem Haus war.
Jeden Tag lernten die Kinder von der Alten die Geheimnisse des Waldes, lernten die Anwendung von Kräutern und wo sie zu finden waren. Sie lernten die Sprache der Tiere und die Geheimnisse von Sonne und Mond. Es wurde Sommer es wurde Winter, und die Jahre gingen ins Land.
Aus dem Mädchen wurde eine hübsche junge Frau und aus dem Jungen ein stattlicher junger Mann, und es kam für beide die Zeit, wo ihre Ausbildung bei Mutter Hulda, so der Name der alten Frau, beendet war. "Ihr habt jetzt alles gelernt, was ich euch beibringen konnte. Nun ist es an der Zeit, daß ihr wieder zurückkehrt in das Dorf eurer Eltern. Die Menschen dort brauchen eure Hilfe und ich bin langsam zu alt, um weite Wege zu gehen. Besucht mich einmal jeden Mond und bringt mir die Dinge, die ich brauche und die mir der Wald nicht gibt."
Die beiden waren sehr traurig, denn im Laufe der Zeit war Hulda ihnen eine zweite Mutter geworden. An diesem Abend, ihrem letzten in der Hütte, gab es keinen Unterricht, statt dessen nahm ihnen Mutter Hulda einen feierlichen Schwur ab, sich immer gegenseitig beizustehen und ihre Kräfte und ihr Wissen niemals zum Schaden von anderen einzusetzen, außer wenn es darum ging, ihr eigenes Leben zu verteidigen. Nachdem die beiden Geschwister diesen Eid geleistet hatten, schenkte Hulda dem jungen Mann einen Zauberknochen und der jungen Frau einen magischen Besen.
Am nächsten Tag machten sie sich auf den Weg zurück in ihr Dorf. Ihre Eltern freuten sich sehr, sie zu sehen, obwohl sie sie erst gar nicht erkannten, so sehr hatten sie sich verändert.
Es sprach sich ziemlich schnell herum, daß die beiden bei der weisen Frau in der Lehre gewesen waren, und jeden Tag kamen nun Leute in ihr Haus, fragten sie um Rat oder baten um heilkräftige Kräuter. Als Dank brachten die Menschen ihnen Hühner, Ziegen und sogar eine Kuh, einige bezahlten auch mit Gold oder Silberstücken und niemand in der Familie mußte mehr hungern.
Auch Mutter Hulda wurde nicht vergessen. Jeden Mond besuchten die beiden Geschwister sie und brachten ihr die Dinge mit, nach denen sie verlangt hatte. So lebten alle glücklich und zufrieden, bis an ihr Lebens Ende.

Rekonstruktionsversuch eines Märchens